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[   Band 2 Brief 109:    Humboldt an Caroline    Rom, 9. Oktober 1804   ]


einen eigenen Weg entdeckt zu haben. Ich gehe gerade am liebsten
aus der schlichtesten Beobachtung zu dem über, das sich gar nicht
mehr anschauen läßt, und nicht ungern ebendahin aus dem natür-
lichen, selbst sinnlichen Gefühl. Bei denjenigen Gegenständen, die
schon von selbst das Gepräge einer reinen Gesetzmäßigkeit an sich
tragen, die schon für und durch die Phantasie geformt scheinen, sehe
ich dasselbe wohl auch bei anderen. So erhebt häufig der Genuß
der Natur und weckt zu Bildung und Dichtung. Aber gerade das
Regelloseste, das in der Allgemeinheit am wenigsten Reine und
Gesetzmäßige, die Menschen, wie man sie findet und sieht, zu solchem
Stoff brauchen zu können, ist schwerer und doch unendlich dank-
barer. Denn wie verdunkelt es auch oft zufällig sein mag, so drückt
sich das Höchste doch im Menschen am reinsten aus; wo es sich in
der Seele verwischt hat, rettet es sich oft noch in die Form, die
ihre ursprüngliche Reinheit sicherer bewahrt; in einzelnen Fällen
sieht man es immer in seiner vollen Schönheit strahlen, und wenn
man nur erst dahin gekommen ist, recht zu fühlen, daß das höchste
Menschliche nur eine hell und rein entfaltete Erscheinung des schlicht
und einfach Natürlichen ist, so findet man überall seine Spuren.
Freilich aber erschließt sich das nur einem selbst ähnlich gebildeten
Sinn, und je mehr man also auf diese Weise im Leben nur den
Menschen sucht und im Menschen das Leben findet, desto reicher,
sich selbst genügender, unabhängiger wird man selbst, desto mensch-
licher und menschlichen Gefühlen berührbarer in allen Punkten seines
Wesens und von allen Seiten der Schöpfung her. Das ist es eigent-
lich, liebe Li, wohin mich meine Natur treibt und worin ich lebe
und webe. Hier ist für mich der letzte Schlüssel alles Verlangens,
der Hafen, von dem aus man keine Segel mehr spannt. Denn
darüber geht nun nichts, das dient nicht mehr zu etwas anderem,
sondern hat seinen Zweck und sein Ende in sich selbst. Wer, wenn
er stirbt, sich sagen kann: »Ich habe so viel Welt, als ich konnte,

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