< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 2 Brief 105:    Humboldt an Caroline    Marino, 18. September 1804   ]


die Menschheit und sich einen so auffallend kleinen Maßstab zu
haben. Er selbst leidet am meisten dabei; denn er hat ein Gefühl
seiner Mängel, und die Ahndung des Höheren fehlt ihm nicht,
Glanz und Ruhm freuen und unterhalten ihn unglaublich und ge-
nügen ihm doch nicht. Der halbe Beifall oder gar der Tadel auch
noch so weniger ist ihm nie gleichgültig, er hat nicht selten schwer-
mütige Gefühle und verfolgt sie nie so weit, daß der Mißklang
sich wieder in Ruhe, wenn auch Ruhe des Schmerzes, auflöste.
Es wäre weit besser, er könnte diesen halb idealischen Teil, der ihn
nur stört, ganz abwerfen, und vielleicht hat er es getan, seitdem er
sich gewöhnt hat, so sicher in Ruhm und Größe zu schwimmen.
Er schreibt mir auch mit großer Zärtlichkeit von Dir und sagt
ausdrücklich, daß er Dich gar nicht verändert finde. Daß er es nicht
ist, begreife ich. Weder er noch ich werden uns je ändern, und es
kommt unstreitig daher, daß man uns bis in eine sehr späte Jugend
ein so einsames und ernstes Leben hat führen lassen, daß der
natürliche Einfluß der Lebensalter und ihr eigentlicher Wechsel für
uns null geworden ist. Kohlrausch findet unverkennbare Ähnlichkeit
in der Sprache zwischen uns beiden. Das hast, dünkt mich, auch
Du schon behauptet.
Mein Leben, liebe Li, ist so einförmig, daß nichts darüber zu
sagen ist. Nur kann ich wenig oder keine Zeit, wie ich wünschte, an-
wenden. Bin ich in Rom, so wird es fast nie leer bei mir, tausend
Leute kommen, und im Annehmen bin ich jetzt wie die Staël. Es
ist wirklich nötig. Die übrige Zeit muß ich ausgehn. In Marino
muß ich also alle Briefe abmachen, dabei gehe ich freilich viel
spazieren. Sobald ich erst wieder ganz in Rom bin, wird alles
besser gehn. Doch bin ich sehr heiter, sehr ruhig und in mir auch
sehr tätig. Auch das wenige, was ich noch an Unruhe, an Treiben,
an Plänen hatte, habe ich verloren; ich komme immer mehr dahin,
ich möchte sagen, das reine Leben zu genießen, und meine Sicher-

                                                                       253