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[   Band 2 Brief 42:    Humboldt an Caroline    S. Sebastian, 30. April 1801   ]


gesehen habe, er zeigte eine Stelle, wo ehemals Häuser standen, und
die nun die Flut bedeckt. Du erinnerst Dich selbst anderer, die am
Ufer verlassen standen, und er hat eine sehr alte Tante gehabt, die
von ihrer Tante gehört hat, daß sie sich erinnerte, Gärten in der
Bai gesehen zu haben. Es ist ein schauderhafter Gedanke, wenn
man an der kleinen Bucht steht, zu denken, welche ungeheure Wasser-
masse auf diese kleine Küste andrängt. Keine andre befindet sich
in gleichem Fall. Denn von Biskaya bis Terreneuve im äußersten
Norden von Amerika ist kein Land, keine größere Insel, welche
die Gewalt des Meeres unterbräche. Wie das Auge auf der
grenzenlosen Fläche, so verliert sich der Geist in dieser Betrachtung,
und nie ist mir die belebte Schöpfung so klein und ohnmächtig, nie
die tote und rohe Masse so übergewaltig vorgekommen, als dort
zwischen den Pyrenäen und dem Ozean. In den Gebirgen jene
ungeheuren, von keinem mildernden Grün umkleideten Felsmassen,
das Bild einer ewig untätigen Ruhe, eine Last, die, immer auf den
Mittelpunkt ihrer Schwere drückend, nur zusammenzustürzen droht,
um sich noch fester aneinander zu ballen. In dem Meer hingegen
die fürchterliche, die Einbildungskraft bis zum Entsetzen anspannende,
sich mit unglaublicher Geschwindigkeit nach allen Seiten zugleich fort-
pflanzende, von dem unbedeutendsten Stoß die ungeheuerste Tiefe auf-
wühlende, den ganzen Erdkreis bedrohende Beweglichkeit. In jener
ewigen Ruhe, in diesem ewigen Rollen — beide in toten, ungeschiedenen
und ungeheuren Massen —, in diesen wüsten Elementen des Chaos
scheint eine dunkle und unverstandene Kraft zu walten, neben welcher
jede geistige verstummt und verschwindet. Dennoch erhält sich, der
Pflanze gleich, die, sich aus den Ritzen des Felsens hervorwindend,
seine schroffen Ecken umklammert, mitten unter dieser Verwüstung
der leblosen Natur die lebendige Organisation, und wie der im Stein
verborgene Funke springt der Trieb der Bildung aus ihm selbst
hervor. In diesem unauflöslichen Rätsel und in dem Gefühl der

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