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[   Band 2 Brief 3:    Humboldt an Caroline    Coswig, 18. Juli, 1/2 11 Uhr [1792]   ]


das Ungleiche wahr aufzufassen, denn überall ist sie ja ein wunder-
volles Ganze, überall eine entzückende Harmonie, überall hallt sie
von Tönen, deren keiner des ihm entsprechenden ermangelt. Und in
mir fühlte ich, wenn ich’s auch nicht mir zu entwickeln vermochte,
alles abgerissen und halb. Manchmal, in diesem Zustand sehnsuchts-
vollen Vermissens, war es wohl, als würde ich mir klarer, als empfänd
ich, welches Band es sein müßte, das mich freundlich an das All
der übrigen Wesen knüpfte. Aber völlig klar wurde es mir nie, bis
ich Dich sah, bis ich sah, wie keinem Tone in mir, nicht auch ein
anderer in Dir antwortet, wie nur vereint mit Dir und wie nie sonst
ich mich, selbst ein Ganzes, an das Ganze der Natur anzuschließen
vermöchte. Du wirst mich verstehen, Li, wenn ich auch hier nicht weiter
zu reden vermag, wenn ich es nicht auszusprechen wage, wie nur
Deine Liebe aus mir und dem All der übrigen Wesen ein harmonisches
Ganze geschaffen hat! Wenn ich Deine Liebe, wenn ich mein Glück
denke, kann ich freilich nur Dich denken, nur empfinden, daß Du so
bist, und daß Du mein bist, aber es liegt doch ewig in dem einen
Gefühl alles, was ich hier in allein Dir verständlichen Lauten zu
stammeln wagte. Ja, daß ich Eins bin in mir, daß ich bin, wozu
ich Anlage hatte zu sein, daß ich Wahrheit sehe, daß ich harmonische
Schönheit empfinde, das ist Dein, einzig Dein Werk; und mein, einzig
mein Werk ist es, daß auch Du bist, was Du sein solltest, daß auch
Du Wahrheit siehst und Schönheit und Harmonie empfindest.
Keiner hat eigentlich dem andern etwas gegeben, o! die Liebe
hängt zu süß an dem Geliebten, um von sich in ihn übertragen zu
wollen, und das Wesen, das zu lieben vermag, ist zu groß und
selbständig, um aus dem andern für sich zu nehmen. Daß wir beide
das fühlen, darum ersticken wir mit besorglichen Küssen immer die
Worte des andern, wenn er Dank stammelt für das, was er empfing.
Aber daß jeder dem andern sich hingab, das machte erst, was jedem
eigen in sich war, vom Schattenbilde zur Wahrheit.

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