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[ Band 1 Brief 116: Caroline an Humboldt [Erfurt], Freitag morgen, den 14. Januar 1791 ]
und lebendig schwebt mir der letzte, bange Morgen wieder vor. Ich fühle noch Deinen letzten zögernden Kuß auf meinen Lippen glühen, fühle die Qual des Augenblicks, in dem ich Dir sagte, zu gehen, und sehe Dich langsam nach der Tür Dich wenden und sie schließen — ich wollte Dich bitten, noch einen Moment zu bleiben, und konnte nicht — meine entfliehende Seele vermochte keinen Laut mehr zu bilden. Du bewunderst einmal in einem Deiner Briefe meine Stärke in diesen letzten Augenblicken. O, glaube nicht, daß es Stärke war. Dumpfe Betäubung hatte meine Seele in dieser qualvollen Stunde eingenommen, hätte ich es voll emp- funden, daß Du gingst, ich hätte Dich nie aus meinen Armen gelassen. Alle Vorahndung, alle Rückerinnerung eines solchen Moments reicht nicht an die Wahrheit der Gegenwart. Wie man sie überlebt — o, es muß noch etwas sein — ein Zweck meines Daseins, längst wär ich nicht mehr ohne das! An unsicht- baren, zarten, unzerreißbaren Fäden werden wir ihm zugeführt, und ich —— ich erkenne ihn ja. Das volle, reine Glück Deines Lebens zu machen, Deinem heiligen Wesen den höchsten Genuß durch das Anschauen der Seligkeit zu geben, die Du mit segnender Hand über mich ausbreitest, o, wem ward noch ein Los gleich diesem! Abends Mußte heut morgen aufhören, und indes bekam ich Deinen Brief, mein Bill. Ich sitze noch in Lilis Stube und fasse es nicht, daß sie fort ist, wähne, sie wird wieder hereintreten, dann schwebt mir der Moment vor, in dem sie ging, und zerreißt mir aufs neue die Seele. Wie ging sie! O, Gott, welche Größe und welche Weichheit ist in diesem Wesen — wie die Gestalt einer Über- irdischen schwebte mir die ihre oft vor, reiner und geheiligt trat ich dann aus ihrer Umarmung, und es entschwebte mir die Seele, die sie mir schöner zurückgab, in Anbetung und Liebe. O, ich bin ein glückliches Weib! Wem ward je gegeben, was ich in so über- 362