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[ Band 1 Brief 105: Caroline an Humboldt [Erfurt], Donnerstag abend, 9. Dezember 1790 ]
Seite in meinen vorjährigen Briefen, nicht, weil ich Dir verhehlen wollte, anderer Meinung zu sein, aber weil ich meinen eignen Ideen mißtraute. Es gibt Dinge, Verhältnisse in der Welt, die sich durch- aus anders in einem Frauenkopf gestalten müssen als in dem eines Mannes. Dieser Fall schien mir hier einzutreten. Was ich darüber dachte, sagte und schrieb ich Carolinen. Auch war es mir, als würde diese Periode nicht lang in Dir dauern, als würdest Du Dich bald zu etwas Besserem gemacht fühlen. Aber dann, o verzeih mir, Bill, traute ich mir nicht, ich dachte, meine Parteilich- keit für eine freie Existenz überrede mich, verrückte mir vielleicht den wahren Gesichtspunkt. Sieh, darum schwieg ich, denn ich wußte, daß Du aus Liebe zu mir alles tun würdest, was ich wünschte, und — aber werde mir nicht böse, Bill — in diese Sache wollt ich Dein Herz nicht mischen. — Sonnabend abend Nun ist der Tag wieder vorüber. Es ist wieder eine beschlossene Woche. So wehmütig ergreift mich sonst oft das Gefühl der schnell hinfliehenden Zeit, und es ist auch noch jetzt in die geheimen Freuden verwebt, die mir sein Hinscheiden gibt. Das ist doch kein Leben. Diese allumfassende Kraft unsrer Wesen war zu etwas mehr bestimmt, als zu diesem schmerzhaften Streben, sich zu er- halten in ewig reger Bewegung. Eine blühende Schöpfung außer sich hervorzurufen, dazu gab sie die Natur. Vollendende Schönheit und glühendes Leben strömt ihr nur aus dem Wesen zu, in das sie sich senkt. Nur im Genusse der Gegenwart gedeihen ihre göttlichsten Blüten. Da entfalten sie sich zu üppiger Fülle, und es entsproßt im segensvollen Odem der Liebe dem Schönen das Schönere. — O, wie selig ist’s, auf dein Bilde zu ruhen — wie süß der Ge- danke, daß in der Menschlichkeit reinsten Gefühlen göttliches Leben glüht — ach, und es auszusprechen vor Dir, jedes leise Gefühl der vollen, überströmenden Seele, welche Wonne reicht an diese! Wenn 314