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[ Band 1 Brief 104: Caroline an Humboldt [Erfurt], Mittwoch, 8. Dezember 1790 ]
104. Caroline an Humboldt [Erfurt], Mittwoch, 8. Dezember 1790 Schon zwei Abende konnt ich nicht zu Dir kommen, mein Wilhelm. Ich war in Gesellschaft, kam so spät nach Hause, daß ich mich zu Bett legen mußte, um Madame nicht durch mein Aufbleiben zu tief in der Nacht zu stören. Ich könnte das ändern. Es ist noch ein kleines Zimmer im Hause, das mir Papa gewiß nicht abschlüge, wenn ich es für mich ver- langte, aber ich mag nicht. So drückend mir ihre Gegenwart ist, nicht, daß sie mir etwas täte, aber ihr Wesen, ihr ewig leeres Ge- schwätz, so süß ist mir auch wieder der Gedanke, daß unsre Lage dadurch mehr Ähnlichkeit bekommt. Du kennst von jeher meine Art, Vergleichungen zu machen, so kindisch sie auch zuweilen aus- fallen. Hier geht’s mir einmal wieder so. Ich denke, Bill sitzt an einem Tische voll Akten, trockner Bücher, macht Relationen und Urtels, denkt immer an Li, aber kann ihr oft nicht so viel sagen, als er wohl wollte. All Dein Wust von Rechtsgelehrsamkeit kon- zentriert sich für mich in Madames Gestalt; wo ich sie sehe, höre, sind meine besseren Gedanken entwandt, ich werde mir selbst nicht klar und vermag nicht, das innere Leben meiner Seele vor Dir auszusprechen. Es ist wohl kindisch, Bill, sich so stören zu lassen, aber kann man dafür? An was das zarte Spiel unsrer Emp- findungen hängt, wie ihre Beziehungen untereinander sind, wer möchte sich erdreisten zu sagen, daß er das alles durchschaute, kennte! Und es liegt denn doch auch unendlich viel darin, so und nicht anders gemacht zu sein. Sei es, daß die Seele, zurückgeschreckt von den Mißtönen, die sie außer sich vernimmt, sich tiefer in sich selbst zurückzieht, welche Fülle der Harmonie bildet sich nicht in dieser Stille in ihr selbst aus! Was sie an Ausbreitung verliert, gewinnt sie an Intensität. Der gewöhnliche Umgang mit Menschen macht flach, es gehört schon eine seltene Stärke des Geistes dazu, 309