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[   Band 1 Brief 92:    Humboldt an Caroline    [Berlin], Donnerstag abend, 11. November 1790   ]


den Gehalt dieses Daseins vermag er noch nicht zu umfassen. In
den lichtesten, schönsten Momenten ahnd ich’s mit freudezitternder
Kühnheit und fühle mich selbst dann über mir, wie ein höheres
Wesen. Alles werd ich durch Deine Liebe sein; was die Mensch-
heit erringen kann, muß mein werden, da Deine Liebe mein ward.
O! Li, laß ihn nicht sinken, den Mut, der uns über die Gegen-
wart hinweg in den Schoß jeder Seligkeit der Zukunft trägt.
Traue Deinem Bill. Wer das Höchste erringen zu wollen diese
Sehnsucht hat, der reißt es an sich und herrscht selbst über das
mächtigere Schicksal. Laß diese Liebe in uns leben und glühen, laß
sie schöner und größer noch und allumfassender werden — wenn-
gleich der anbetende Geist jetzt kein höheres Ideal zu denken ver-
mag — und wir werden auf ewig ein vereintes, nein, kein vereintes,
werden Ein Dasein führen. Der Dinge Urwesen bleiben, wie sie
waren, ewig, selbständig, unveränderlich erscheinen sie nur dem
beobachtenden Auge in wechselnden Gestalten. Durch alle Wechsel
hindurch streben sie zurückzukehren zu der hohen, ursprünglichen Ein-
fachheit. In dem Innersten unsrer Seelen sind sie oder vielmehr
wir sind sie selbst, nur, daß wir uns selbst nicht zu schauen ver-
mögen, gehemmt durch die Schranken unseres eingeengten Daseins.
Daß wir dies aber sind, sagen Momente des Lichts, wo der
Schleier auf Augenblicke zerreißt und wir neue Sinne und Kräfte
fühlen und staunen ob dem, was wir nicht kannten. Wo diese Ur-
wesen vereint sind, da ist die Empfindung ewig wie sie, und keine
Trennung denkbar, denn die Zukunft liegt in dem Keime der Ver-
gangenheit, und was sein wird, wird sein, weil es war. So werden
wir eins sein, weil wir eins waren, seit der erste Moment des Da-
seins währt, wenn der erste Moment nicht täuschendes Bild unsrer
Phantasie ist und nicht alles nur darum nicht ewig eins und un-
veränderlich ist, nicht weil es in sich von Dasein zu Dasein über-
ginge, sondern nur, weil wir es nicht anders zu sehen vermögen,

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