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[   Band 1 Brief 89:    Humboldt an Caroline    [Berlin], 6. November 1790   ]


nicht denken, daß ich immer nachgebe. Nein, die meiste Zeit bleib
ich sitzen, wenn’s mir auch wird, als sähe ich alle die Menschen im
Blut vor mir. Denn das möcht ich so gern erringen, stark zu
werden und doch gleich reizbar zu bleiben. Ohne diese Reizbar-
keit gibt’s keinen wahren Genuß. Manchmal ist mir die viele Arbeit
nicht lieb. Aber dann doch. Sie dispensiert mich von Gesellschaften,
wenigstens oft. Lebe wohl, mein teures Einzigliebes!


90. Caroline an Humboldt            [Erfurt], 8. November 1790,
                                                   Montag abend

O mein Wilhelm, laß mich Dir jetzt schon sagen, was jeder
Moment meines künftigen Daseins Dir wiederholen wird,
 — daß Du mir das Höchste gegeben, was Menschen zu
empfangen, zu genießen vermögen. O wir könnten von hinnen
scheiden, Bill, ohne zu klagen, daß unser Dasein ungenützt entfloh.
Machten wir nicht unser gegenseitiges Glück, ein so unendliches
Glück, daß die Sprache davon scheidet, wenn sie es nennen will?
Und ertönte uns nicht aus unsren Wesen die ewige Harmonie der
Dinge? Es löste sich in Wonnegefühl allwaltender Liebe das Ver-
worren scheinende Gewebe des Lebens, und mit erschlossenerem
Sinn drang Dein Blick in das tiefere, heiligere Leben der Natur,
voll Begeisterung fülltest Du meine Seele mit den geistigen Ge-
stalten der Deinen, hauchtest mir den Willen und den Mut ein,
Dir zu folgen. — Liebe trägt Dir die Fackel vor, Liebe zieht mich
Dir nach! O so laß ihr unser Dasein in allen Gestalten weihen,
in denen die Natur es wandeln mag. — Einst, wenn wir den
Anblick der ewigen Schönheit, von der wir hier nur einzelne Züge
sammeln, schleierlos zu ertragen vermögen, finden wir es vielleicht

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