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[ Band 1 Brief 89: Humboldt an Caroline [Berlin], 6. November 1790 ]
wert zu sein vermag. Denn was Menschen erreichbar ist, das muß dem werden, den Du liebst. Vielleicht ist’s eine Art Täuschung in beiden oder nicht Täuschung eigentlich, aber es fehlt dem Blick, der sich selbst sieht, an Schärfe. Er sieht sich nicht in der Urgestalt des Wesens, bemerkt nur die einzelnen Erscheinungen und verknüpft sie miteinander und bildet sich so ein unvollkommenes Ganze, statt die Quelle wahrzunehmen, woraus das alles fließt. Nur der Liebe weicht jeder Schleier zurück, nur ihr erscheint jede Gestalt in heiliger Wahrheit. Darum schwieg ich anbetend vor dem Blick der Liebe, und so schweige auch Du, meine Lina, und glaube Deinem Bill, wenn er Dir sagt, daß er Dich nicht verdient, und freue Dich der Kraft, die in Dir lebt und die Du selbst nicht rein und voll zu erblicken vermagst, weil diese Kraft Deinen Bill beseligen wird die ganze Dauer seines Daseins hindurch. Du bist bei Carolinen gewesen. Ach, sage mir doch ausführlich, was das liebe Wesen macht? Sie kommt doch bald zu Dir? — Herzens *) sind beide krank. Sie hat den Husten, er die Rose am Backen, also ein noch einmal so dickes und glänzendes Gesicht. Ich bin bis jetzt — sehr oft dagewesen, ich werd’s nun aber weniger können, weil ich viel mehr zu tun habe. Alexander läßt Dich grüßen. Er wird den Sommer in Frei- berg auf der Bergakademie zubringen. Bei der Hinreise besucht er Dich, denk ich, gewiß. Er ist ein lieber Junge, nur scheint er mir eigne Ideen zu haben, die mir nicht lieb sind, vielleicht aber nur, weil es nicht die meinigen sind. Er scheint gern viel wirken zu wollen, und das außer sich; nur um sich einen großen Wirkungs- kreis zu verschaffen, tut er vieles, was andern notwendig Eitelkeit scheinen muß, kramt seine Kenntnisse aus, sucht die Menschen da- durch bald zu blenden, bald zu gewinnen. Mir scheint die Rechnung trügerisch. Alles Wirken auf andre geht von dem Wirken auf ——— *) Henriette und Markus Herz. 270