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[ Band 1 Brief 81: Humboldt an Caroline [Berlin], 10. Oktober 1790, nachts nach 12 Uhr ]
81. Humboldt an Caroline [Berlin], 10. Oktober 1790, nachts nach 12 Uhr Da saß ich und arbeitete, und es ward mir so weh, und ich sehnte mich, Deinen letzten Brief wieder zu lesen und Dir zu schreiben, aber die Glocke wollte noch nicht zwölf schlagen, und bis zwölf zu arbeiten ist eigentlich mein Gesetz. Ich muß mich wie ein Kind behandeln. Und endlich schlug sie, und ich nahm Deinen Brief und küßte und las und weinte. Ich fühlte mich auf einmal so öd und verlassen, und in unendlicher Sehnsucht sank ich auf den Arm hin und wußte nicht wie mir war. Da fiel etwas in den Büchern, die rund um mich her liegen, und ich erschrak so und fuhr zitternd auf. Nun will ich Dir schreiben, daß meine letzte Beschäftigung Du seiest, wie Du mein letzter Gedanke bist. . . . Wenn ich nicht arbeiten kann, wenn mein Geist irr um- herschweift und mein Herz keine Ruhe findet, dann lese ich ein Blatt von Dir oder nehme etwas von Dir und weine darüber ein paar Augenblicke und arbeite dann wieder so geduldig als sonst, der ich mich so rühmte, daß ich doch nie eine andre Freude als solche Arbeit haben würde, denn das dacht ich immer. Ein Dasein wie das jetzige war ich nicht kühn genug zu hoffen. Zu wünschen? ach! wohl. Ich schloß mich doch in der ersten Kindheit so fest, so innig an; wenn einmal mein Vater, den ich sehr liebte, mein Bruder auf einen Tag weggingen, wurde mir doch so weh, daß jetzt, bei den Gefühlen für Dich, wie eine Erinnerung daran zurück- kehrt. Hast Du das wohl überhaupt manchmal, Li, das Fühlen einer Gleichheit zwischen jetzt und sonst? Ich hab es sehr, sehr oft, und es freut mich immer, denn eigentlich ist mir doch meine ganze Vergangenheit wert. Ich bin doch immer so glücklich ge- wesen, wenn ich auch litt. Manchmal wird’s mir ordentlich weh, wenn ich bedenke, daß das Schicksal mich so glücklich macht. Deine 240