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[   Band 1 Brief 57:    Humboldt an Caroline    [Berlin], den 19. Juni 1790   ]


niemand als von Dir, und so erhältst Du jugendlich und unent-
weiht, was in mir liegt. Aber es ist auch niemand als Du, der
sich so mit dem andern beschäftigt, so in ihn hineingeht. Die
meisten, die ich kannte, leben und weben zu sehr in ihrem Gefühl
allein, sehen nur in diesem Spiegel den andern. Du aber siehst
ihn so ganz, wie er ist, und gattest dann mit dem reinen Resultat
der Beobachtung die Fülle Deiner Empfindung. Überall, wo wir
geliebt werden, finden wir uns in dem liebenden Wesen wieder,
aber bei allen andern nicht eigentlich uns, sondern die Gestalt, in
der sie uns auffaßten, nur bei Dir findet man sich ganz und rein
und unvermischt, und sich dann mit Dir so verwebt zu sehen, freut
und beseligt so unendlich mehr, weil dann auch darin so gar keine
Täuschung sein kann. —
Verzeih, meine Liebe, eben läßt Siebmann, der beim Aus-
wärtigen Departement steht, mich rufen. Es betrifft wahrscheinlich
den Legationsrat. Sobald ich wiederkomme, fahr ich fort. — — —
Ich wollte fortfahren, liebe Lina, und es tut mir so weh,
gestört worden zu sein. Aber Siebmann hat mich bis jetzt,
da es die höchste Zeit ist, den Brief zur Post zu schicken, auf-
gehalten. Nun also noch die paar Worte. Ich bin Legationsrat,
eben bekam ich das Patent. Papa muß es nun doch erfahren,
und ich schreib’s ihm Dienstag, wo Du auch viel erhältst. Erzähl
ihm nur, daß ich gleich, als ich hergekommen, Arbeit bei Herzberg
gesucht, daß er mir gesagt, er könne sie mir nicht geben, wenn ich
nicht vereidet wäre, und dazu müßte ich Legationsrat sein, daß ich
darum das angenommen, daß es mich aber, da ich kein Gehalt ge-
fordert, auch keins nehmen würde, schlechterdings nicht bände. Leb
wohl — ich muß eilen. Ich hätte Dir nur so gern heute noch viel
geschrieben. Daß auch so fatale Kleinigkeiten einen stören müssen.
Leb wohl!

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