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[ Band 1 Brief 57: Humboldt an Caroline [Berlin], den 19. Juni 1790 ]
hatte gerade damals so viele unbefriedigte Bedürfnisse, ich fühlte mich allein und war mir doch so innig bewußt, so viel geben zu können, o! und wie viel mehr zu empfangen. Ich sah zum Teil die glücklich, die ich liebte, und das gab mir doch keine Ruhe, keine Zufriedenheit. Da schien ich mir selbstsüchtig und kalt, und es war so innig empfunden, als ich Dir das sagte, den Augenblick, da wir uns einmal den Nachmittag in Dein Zimmer stahlen. Warum sollt ich Dir nicht offen sprechen, warum Dir nicht jede meiner Stimmungen enträtseln? Ja, meine Lina, ich glaubte Dein Herz mit allen Banden einziger, ausschließender Liebe an Carl gebunden. Wenn Du von ihm sprachst, warst Du inniger gerührt, wenn Du mit ihm saßest, warst Du schmerzlicher und heftiger bewegt. Darum sprach ich allein mit Dir von ihm, darum so wenig und selten von mir. Ach, ich war zu sehr in der Stimmung, in der man kein Wort sagen kann, ohne alles zu verraten, und es lag mir so viel daran, daß alles Dir ein ewiges Dunkel bliebe. Ich dachte, Du würdest glück- lich sein, wenn ich Dich besäße und Du dann ganz Deinen lieben Gefühlen leben könntest. Stören, wußte ich, fordern würd ich nie. Ich wußte, ich würde glücklich sein, wenn ich Dich glücklich sähe und Du so gut und liebevoll gegen mich wärest, aber ich wußte auch, daß dieses Glück mein Leben aufreiben würde. Denn wie wirkt diese Güte, wenn das Herz sich so nach etwas anderm sehnt! Und tausendmal fiel mir aus Goethe ein: Lieber mit Leiden möcht ich mich schlagen, als so viel Freude des Lebens ertragen! Und doch sah ich dies als die einzige Bestimmung meines Lebens an, als das Einzige, dessen Gewährung mein Leben noch schön machen könnte. Konnt ich nicht in mir das volle Glück erreichen, dessen Idee mir ewig so gegenwärtig war, so hatt ich doch dann einen Gegenstand außer mir, den ich mit dieser Stärke umfassen konnte. In dieser Stimmung schrieb ich die Zeilen; ich wähnte, sie würden 167