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[ Band 1 Brief 52: Humboldt an Caroline [Berlin oder Tegel], 24. Mai 1790 ]
52. Humboldt an Caroline [Berlin oder Tegel], 24. Mai 1790 Wohl ist’s ein ganz neuer Charakter, Gretchen in Goethens Faust. Diese Naivität und fromme Unschuld! Und in dem Ausdruck diese Natur und Wahrheit. Die Art, wie sie sich ihm erklärt, wie sie ihm den Kuß zurückgibt, ist über jede Beschreibung meisterhaft. Und auf der andern Seite Faust. Dies Große, Allumfassende, diese Gabe, die ganze Natur mit seinen Gefühlen zu verweben, ist doch nur bei Goethe in der Stärke und Schönheit geschildert. Der ewig rege Drang nach Wahrheit und Erkenntnis, das enthusiastische Gefühl für moralischen Adel, die unaufhörliche Gegenwart unerreichbar schöner Ideale, die Fülle und die Seligkeit, die daraus auf der einen Seite, und die Empfindung eigener Armseligkeit, die auf der anderen daraus entspringt, sind so ganz wahr im Faust gezeichnet. Überall sieht man in ihm den hohen, über die Grenzen der Menschheit hinausstrebenden Geist, der in der Menschheit jeden mehr als menschlichen Funken auffaßt und sich von der Höhe emporschwingt. Gretchens Charakter ist durchaus entzückend und oft ihr Ausdruck so rührend; wie sie gar nicht begreifen kann, was Faust an ihr findet, wie sie ihre Arbeit im Hause, die Genauigkeit ihrer Mutter, die Wartung ihrer kleinen Schwester erzählt, und dann die Stelle: Und bin nun selbst der Sünde bloß! Doch — alles, was mich dazu trieb, Gott! war so gut! ach, war so lieb! Wenn nur das Ganze nicht so buntscheckicht wäre. Aber von vornherein sind fatale Szenen, hie und da freilich schön, aber auch so undelikat und roh. Die niedliche Szene der ersten Zusammen- kunft Gretchens und Fausts wird einem durch die Marthe ewig verdorben. Goethe hätte sie nicht sollen einander begegnend spazieren gehen lassen. Denn so oft ich nun lese, was Grete sagt, seh ich 150