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[ Band 1 Brief 8: Caroline an Humboldt Erfurt, Sonntag abend, den 4. Januar 1789 ]
zu vielen verbreitetest, sagen soll, weil ich, um darüber zu urteilen, Deine Briefe sehen müßte, und ob sie dazu Anlaß gegeben; was aber die an mich gerichteten Briefe, die zu schwärmerisch sein sollen, betrifft, so haben Carl, Brendel und Jette unrecht. Außer, daß die Grenze zwischen tiefer, wahrer Empfindung und Schwärmerei so fein ist, daß sie nur von wenigen entdeckt wird, so ist es immer vermessen, des andern Gefühle despotisieren oder auch nur beurteilen zu wollen, weil auch bei der innigsten und genauesten Kenntnis seines Charakters es uns doch unmöglich ist, den Gang seiner Empfin- dungen zu durchschauen und das Letzte und Höchste seiner Gefühle zu bestimmen. Daher kann bei dem einen wahre Empfindung sein, was bei dem andern nur erborgt ist, und daher läßt sich durchaus nichts allgemeines über dies Süjet sagen, ohne Gefahr zu laufen, ein ungerechtes Urteil zu fällen. Was den andern Vor- wurf betrifft, den Dir die lieben Geschöpfe gemacht haben, so finde ich ihn ernsthafter. Mangel an Vertrauen würde Mangel an Liebe voraussetzen, und Mangel an Liebe in einer Verbindung wie die unsre — ich mag nicht alles hernennen, was daraus folgen würde, denn Dein Herz hat sich auch nicht des fernsten Gedankens eines solchen Mangels schuldig gemacht. Wilhelm! ich sollte viel- leicht nicht über eine Sache urteilen, die Dich betrifft, aus Furcht, für parteiisch erklärt zu werden, weil ich sie schon längst in einem so ähnlichen Gesichtspunkt betrachtet habe und noch betrachte — doch nein. Ich will Dir meine Ideen darüber ohne Hehl sagen: mein Herz sagt mir, daß es seine innigste Überzeugung ist, daß kein Schatten von Parteilichkeit stattfindet und daß es sich gern eines Besseren will belehren lassen, wenn ihm die Richtigkeit einer andern Meinung so anschaulich gemacht wird, wie ihm jetzt die Wahrheit seiner eigenen ist. Nach meinen Begriffen besteht die höchste Schönheit unsres Wesens in einer gewissenhaften Erfüllung aller unsrer Pflichten und ihrem richtigen Verhältnis unter- 18