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[   Band 6 Brief 175:    Humboldt an Caroline    Frankfurt, 5. Februar 1819   ]


die Schilderungen eine unglaubliche Wahrheit und müssen einen
zu allen Zeiten um so mehr anziehen, da die damalige Romansprache
noch so ganz aus schlichten Worten zusammengesetzt ist und gar
nicht die eigenen, jetzt gestempelten Ausdrücke kennt. Die Art z. B.,
wie Mädchen bei einer ersten noch nicht vollkommen entdeckten Liebe
mit einem gewissen Scherz und einer Art Kälte, ohne es zu wollen,
den, welcher Leidenschaft hat, ordentlich fürchterlich martern, und
wie das wieder auf sie selbst zurückwirkt, ist in Theresen sehr ein-
fach aber wirklich meisterhaft geschildert. Dann hat man doch auch
an einer solchen Liebe länger zu lesen. Jetzt geht alles so geschwind,
daß man es gar nicht recht froh wird. Die Leute im Sigwart
machen einen ganzen Band miteinander durch und nennen sich
noch auf der letzten Seite Sie, wer weiß ob sie nun im zweiten
Teil zum Du kommen? Verzeih aber ja, geliebtes Kind, daß ich
Dich mit dem einfältigen Roman ennuyiere. Ich bin aber einmal
in die alten Bücher gekommen. So habe ich auch von Schlosser die
Insel Felsenburg *) bekommen, die ich noch viel früher gelesen hatte, und
schon alle Geschichten, die mir noch erinnerlich waren, wiedergefunden.
Ich bin gestern mit einer an sich ziemlich großen Arbeit, und
die mich hier einzig eigentlich beschäftigt hatte, fertig geworden.
Stein hatte mir mehrere eigene und fremde Aufsätze, von denen
ich Dir schon geschrieben, über die Ständeverfassung gegeben. Dar-
über habe ich einen eigenen gemacht, von dem ich recht gewünscht
hätte, ihn Dir zeigen zu können. Ich habe darin den ganzen Gang,
der zu nehmen ist, entworfen, und soviel möglich alle Hauptfragen
berührt, dagegen alle minder wesentlichen Bestimmungen übergangen.
Ich lasse jetzt diese Arbeit von Boisdeslandes abschreiben, dann
bekommt sie Stein, und ihm und mir wird sie dienen können, wenn
ich in dem Geschäft weiter bleibe, alle anderen Veränderungen
oder weiteren Bestimmungen daran anzureihen. Ich werde Stein

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*) Abenteuerroman von Ludwig Schnabel, 1731 erschienen.

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