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[   Band 6 Brief 129:    Humboldt an Caroline    London, 29. September 1818   ]


lebt, alles aus Dir geschöpft und Dir alles gegeben, nichts höher,
heiliger und lieber gehabt als Dich; wie kann, wenn das zerrissen
wird, das Leben etwas anderes mehr sein als ein Richten der
Schritte zum Grabe, ein Suchen des kürzesten, sich aus dem Inneren
des Gemüts selbst entwickelnden Pfades?
Alles dies, teuerstes, inniggeliebtes Herz, ist mir lange und
immer gleich klar, und ich fühle so sehr die Wahrheit davon, daß
mir das eigentlich der Urquell aller Wahrheit ist. Nur insofern
etwas ein diesem ähnliches Gefühl hervorbringt, ist es selbst wahr.
Dabei weiß ich recht wohl, daß auch Du, liebes, teures Herz,
manchmal kleine und unbedeutende Schwachheiten hast, und könnte
ordentlich wünschen, daß es doch eine darunter geben möchte, die
es einige Mühe machte, zu tragen. Es ist etwas Hübsches und
Liebliches darin, so etwas zu kennen und zu verstehen, zu schonen
und zu tragen, und man liebt es wie das Ganze, zu dem es ge-
hört. Es hat schwerlich je ein Mensch über einen anderen so viel
nachgedacht, als ich über Dich, es gibt keinen schöneren Stoff des
Nachdenkens als eine große menschliche Natur.
In diesem Augenblick kommt Dein Brief vom 12. an, ich habe
es immer gern, wenn die Blätter Deiner Hand kommen, wenn ich
eben schreibe. Aber, daß Du wieder so gewaltige Schmerzen ge-
habt hast, arme, liebe Seele, wenn es Dir nur doch nicht schadet,
daß Du jetzt nach Deutschland gehst. In Deinen beiden Briefen
ist die Neuigkeit von Bernstorffs Anstellung natürlich und mit
Grund vorherrschend, so daß auch ich darauf zurückkommen muß.
Wohl hast Du recht, daß es povera gente mit ihrer paura di me
ist. Sie haben auch nicht den mindesten Begriff von mir, ich
möchte sagen, nicht einmal einen falschen. Wenn sie wüßten auf
der einen Seite, wie so gar nichts ich mir aus aller ihrer Grandeur
und dem anscheinend wichtigen und in sich so nichtigen Treiben
mache, und auf der anderen, wie ich so ganz natürlich den besten

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