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[   Band 6 Brief 129:    Humboldt an Caroline    London, 29. September 1818   ]


eigentlich erst dem Menschen das Auge, die Wahrheit zu schauen,
und so bin ich sicher, daß ich mich nicht täusche. Es hat nie eine
so vollkommene und so vollständig weibliche Natur gegeben, als
Du bist, und zwar, was dies gerade beweist und Dich auszeichnet,
immer zugleich im höchsten wie im schlichtesten Verstande des Wortes.
Davon ist eine starke und dauerhafte körperliche Konstitution nicht
nur unzertrennlich, sondern gewissermaßen die Grundlage. Körper
und Gemüt bilden sich ohne störende zufällige Umstände doch har-
monisch aus und noch mehr vielleicht bei Frauen als bei dem
Mann. Diese wundervolle Harmonie Deines Wesens, die doch zu-
gleich so natürlich ist, als müsse es gerade so sein, gibt dem, den
Du liebst, eine Sicherheit, die man mit keinem anderen Gefühle
der Welt vergleichen kann. Es ist einem fest und unwandelbar,
als müßte diese Harmonie das Schicksal sich erbilden, als müsse ihr
stilles Walten überall herrschend werden. Daher, so lange Du
lebst und mich liebst, was eins ist, habe ich eine innere Ruhe, für
die es keinen anderen Ausdruck als den einer himmlischen gibt, aus
der alles Glück in einem entspringt, und in die wieder aller Kummer
sich auflöst. Allein eben darum wäre auch, wie ich Dich nicht
mehr besitze, alles für mich dahin; und doch kann ich wieder nicht
sagen dahin, aber plötzlich in eine andere und ganz andere Sphäre
gestellt. Statt der Bewegung und Heiterkeit der Gegenwart und
der Freude des Genusses kann es dann nur Stillstand und Weh-
mut der Erinnerung und Schmerz des Entbehrens geben, der größte
und von dem das Gemüt jetzt nicht einmal eine Vorstellung hat,
aber auch der wohltätigste, weil er das Wesen bald still auflösen
würde. Ich glaube nicht, daß ich je mehr fähig wäre, etwas
Äußeres zu tun und zu treiben. Wenn das, dem man angehört,
entrissen ist, bleibt keine eigentliche Rückkehr zum Leben mehr übrig.
Wenige Männer können davon einen Begriff haben, weil wenige
so glücklich sind. Ich habe seit früher Jugend in und mit Dir ge-

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