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[   Band 6 Brief 85:    Humboldt an Caroline    London, 26. Mai 1818   ]


so wie ich, was Du sehr schön sagst, das Süße und Schmerzliche
des Wiederkehrens der Tage der Erinnerung. Ich hänge überhaupt
sehr an der Zeit und genieße auf mancherlei Weise ihr Verlaufen
und ihr ewig wieder in sich Zurückkehren. Man sieht auch recht,
wie es dem Menschen eigen ist, und wie er es gern an die heiligsten
Dinge knüpft. Obgleich die protestantische Religion mit den heiligen
Tagen darin viel aufgegeben hat, so hat sie doch die wiederkehrenden
Evangelien und Episteln behalten, die ich besonders hübsch finde,
da es ein gegebener Gedankenstoff ist, der, immer derselbe bleibend,
je nachdem er das Gemüt, den wechselnden Ereignissen der Jahre
nach anders gestimmt findet, verschiedene Empfindungen erregt.
Auch daß Du dem Schmerz nicht gleichsam unhold bist, sondern
ihn aufnimmst wie etwas, das zum Gewebe des Lebens gehört und
sich mit allem anderen in ihm um das Herz legt, ist sehr schön und
ganz mein eigenes Gefühl. Man kann ihm wirklich nur Genuß
und Freude entgegensetzen. Denn von Glück ist er nicht immer
getrennt, und von jeher hat mir dieses immer aus zwei Elementen,
einem himmelsklaren und einem irdischwehmütigen zusammengesetzt
geschienen. Mit niemand, geliebtes, teures Herz, kann man so
als mit Dir in alle Tiefen des menschlichen Seins eingehen, und
dabei gibt es wieder auch nichts so Amüsantes, als Du bist.
Du wirst Dich wundern, daß ich noch von Möglichkeit rede,
an den Kongreß zu kommen. Boisdeslandes hat es neulich an
Bülow als eine gewisse Sache geschrieben. Denn ich habe ebenso-
wenig Briefe, Depeschen und Befehle als der Vater des Nibietto *).
Man traut uns allen eine himmlische Kraft zu, alles aus der Luft
zu nehmen. Übrigens ist über die Dinge, mit denen dies zusammen-
hängt, bei uns nur eine Stimme. Noch gestern sagte mir ein
Geschäftsmann aus Danzig, der hierher geschickt ist, ein guter

———
*) Niebuhr wurde von den Römern Nibbio genannt, und Humboldts
leiteten daraus das Diminutiv Nibietto für das Kind ab.

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