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[   Band 6 Brief 84:    Humboldt an Caroline    London, 19. Mai 1818   ]


Religionseindrücken so lange warten muß. Man sagt zwar, daß
die Kinder es nicht verstehen, und daß sie die Übungen, die man
mit ihnen zu früh anstellt, ohne lebendigen Sinn, wie eine bloße
Gewohnheit behandeln. Aber ein Verstehen durch bloße Begriffe
gibt es in der Religion auch für den Erwachsensten nicht, man
müßte denn unter Religion einen gewissen vorraisonnierten kraft-
und geistlosen Deismus verstehen, mit dem man sich eine Zeitlang
unseligerweise herumtrieb, und ein gewisses, sehr einfaches Ver-
stehen ist, möchte ich behaupten, dem kleinsten Kinde möglich. Daß
die Beschäftigung mit diesen Dingen zur Gewohnheit wird, schadet
gar nicht, werden nicht unsere liebsten und tiefsten Gefühle Ge-
wohnheit, ohne irgend dadurch zu verlieren? Nur tote Gewohnheit
braucht es nie zu werden. Das kommt nur auf die Art an, wie
man es macht und treibt. Man versäumt wirklich das Einfach-
Gute, indem man ein Höheres und angeblich Besseres vergebens
sucht, und es ist schlechterdings notwendig, daß Geist und Herz,
auch ganz eigentlich mit fremder Anleitung sich mit religiösen
Ideen und Gefühlen beschäftige und an ihnen prüfe. Das
hindert gar nicht, daß der Mensch später seinen eigenen, viel-
leicht auch sehr verschiedenen Weg gehe, aber es hindert, daß
er es auf eine inkonsequente oder leichtsinnige Weise tue oder gar
allem Unterwerfen unter unsichtbare Mächte fremd bleibe. Wie
der Mensch sich gegen diese stellt, davon und davon allein hängt
sein ganzes inneres Schicksal ab, alles, was ihm Ruhe gegen die
Welt, Fülle für die Einsamkeit und Stärke gegen Unglück und
Beschwerde gibt. Es ist der Knoten, in dem Leben und Tod, Zeit
und Ewigkeit in Eins geschürzt sind, und dessen Festigkeit erst sich
bewährt, wenn man im letzten Augenblick allein jenen unsichtbaren
Mächten gegenübersteht und den Fuß über die Schwelle setzt,
über die niemand einem nachfolgt. Mich kann manchmal eine Art
Sehnsucht nach diesem Zeitpunkt ergreifen, gar nicht, daß es mich

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