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[   Band 2 Brief 109:    Humboldt an Caroline    Rom, 9. Oktober 1804   ]


wisse, noch wissen könne. Wäre sie da, so hielte sie Dich bis zum
neuen Jahre. Hier habe ich bis jetzt immer gesagt, Du würdest
nicht zur Krönung bleiben. Die alten Kardinäle freuen sich dann
entsetzlich, und wenn ich hinzufüge: »Chiunque ha visto una funzione
di s. Pietro, non vuol più veder altra«, so fangen sie ganz süß zu
lächeln an. In der Tat glaube ich aber, daß es wohl der Mühe
wert ist, dazu da zu bleiben. Es muß außer der Pracht ein barockes
Schauspiel sein; da Du einen guten Platz haben würdest, würdest
Du auch die Personen nah sehen können, und es ist immer spaß-
haft, zu sehen, wie sich einer bei einer Komödie gestaltet. Also folge
Deiner Lust, liebe Li. Ich bin überzeugt, daß Du mit Alexander
sehr vergnügt lebst, er kann in seinen Briefen nicht genug rühmen,
wie gut Du gegen ihn bist und wie glücklich er sich fühlt, Dich
gefunden zu haben. Was Du mir, liebe Li, in Deinem Brief im
Gegensatz mit Alexander sagst, hat mich tief gerührt. Ich kann
nicht sagen, daß ich eben glaube, in irgend einer Art über ihm zu
stehen. Aber seit unserer Kindheit sind wir wie zwei entgegengesetzte
Pole auseinandergegangen, obgleich wir uns immer geliebt haben
und sogar vertraut miteinander gewesen sind. Er hat von früh an
nach außen gestrebt, und ich habe mir ganz früh schon nur ein
inneres Leben erwählt, und glaube mir, darin liegt alles. Ich habe
nie das Talent gehabt, bei Einer Sache wie bei einem Zweck
stehen zu bleiben, und habe es noch nicht, und im Leben schadet es
mir oft. Die Frage, was denn am Ende bei dem allen heraus-
kommt, was übrigbleibt, warum dies und jenes verschwindet, war
immer die erste bei mir. So hat sich in meinem Inneren etwas
gebildet, was mich nie verlassen kann als mit dem Dasein selbst,
was mir eine tiefe Ruhe, eine dauernde Selbständigkeit gibt, in der
ich immer mich und das Leben und das Schicksal wiederfinde, und
das, wenn es je einen Augenblick verdunkelt wird, ein einziger
Spaziergang, ein Gedanke an Dich, ein Blick auf die Kinder, ein

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