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[   Band 1 Brief 87:    Humboldt an Caroline    [Berlin], Sonntag abend, 31. Oktober 1790   ]


lung eines Mannes urteilt. Aus so einem ungeschickten Stück Akten
will ich wissen, wie der Mensch ist in seinen Ideen, Gefühlen, und
noch dazu meistens ein Mensch, der in so verschiedener Lage mit
mir lebt, daß es mich, auch wenn ich ihn um mich hätte, Studium
kosten würde, in ihn hineinzugehen. Das Resultat dieser Beob-
achtungen, das oft so fein ist, muß ich dann einem steifen, posi-
tiven Gesetz anschmiegen, und diese Kluft zu überspringen, meine Zu-
flucht zu einem scharfsinnigen, oft spitzfindigen Räsonnement nehmen.
Was mich aber am meisten kränkt, das ist eben dies Räsonne-
ment über den Charakter. Denn es muß doch weit peinlicher sein,
sich falsche Beweggründe unterschieben zu sehen, als selbst die
härteste Strafe erdulden. Die Arbeit, von der ich Dir neulich
schrieb, war von der Art. Eine Person hatte ihr fünfmonatiges
Kind umgebracht, weil sie es nicht unterbringen konnte und nicht
zu ernähren wußte. Es kostete mich da immer weit mehr, zu sagen,
sie hat es aus Gleichgültigkeit gegen das Leben des Kindes getan,
aus feiger Trägheit, es mit Mühe zu ernähren, als sie zu ewigem
Gefängnis zu verurteilen. Ich weiß denn auch wohl, daß das nur
in meiner Empfindung so ist, nicht in der der Menschen, über die
ich spreche, daß ich also selbst durch ein ganz falsches Räsonnement,
sobald ich nur nicht zu hart strafe, nicht kränke; aber meine Ein-
bildungskraft stellt es mir doch einmal so vor, und um eigentlich
ganz edel gegen die Menschen zu handeln, muß man sie sich doch
immer ebenso feinfühlend denken, als man sich selbst in einem
gleichen Falle zutrauen würde. — — Verzeih mir, meine Li, daß
ich Dir so viel von diesen Dingen vorschwatze, aber es ist doch das,
womit ich mich jetzt am meisten beschäftige, und da denk ich, muß
Li wissen, wie das auf mich wirkt. Mußt aber nicht glauben, daß
ich eben ungern arbeite. Nein, wirklich nie. Täte nur lieber etwas
andres, wodurch ich in mir mehr, Li’s werter würde und ihr mehr
und höheres Glück gäbe. Denn dazu, dazu allein möcht ich doch

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