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[   Band 1 Brief 53:    Humboldt an Caroline    [Berlin], den 8. Juni 1790   ]


Phantasie heißt, das Gewebe unsrer Ideen und Empfindungen,
und Nachbild, unvollkommenen Abdruck, was jetzt uns wirklich
heißt, unser äußeres Wirken und Leiden. Mögen diese Ideen auch
verschwindender Traum scheinen, sie haben schon in uns so viel
Wirklichkeit. Wenn wir unsre Seele reinigen, wenn wir den Blick
immer auf das richten, was in sich fort wirkt und lebt, auf der
Seele innere, unsichtbare Existenz, so entheben wir uns nach und
nach der gewöhnlichen menschlichen Ansicht. Wie ich auf dies Ge-
fühl so oft durch Dich geführt wurde! Wenn ich so neben Dir
sein, so tief in Deine Seele schauen konnte —— es waren die einzigen
glücklichen Momente meines Lebens. Bald werden sie jetzt zurück-
kehren, bald werde ich Dich wieder in meine Arme schließen, freilich
wieder zu neuer Trennung, aber nicht mehr fern wird ja auch der
Tag sein, nach dem keine Trennung mehr uns droht. —
Ich bekomme keine Antwort von Papa und bin beinah un-
ruhig darüber. Ich dächte, er müßte mit meinem Briefe zufrieden
gewesen sein; ich hatte ihn wirklich mit empfundener Herzlichkeit
geschrieben, weil ich Papa immer gut gewesen bin und er sich jetzt
sehr gütig gegen uns genommen hat.
Ich hatte diese Woche ein paar liebe Augenblicke mit der
Hagen. Hoffnungen künftigen Seins sind ihr ein großes Bedürf-
nis. Mir nicht. Ob mir die Gegenwart und die Vergangenheit
zu viel ist, um sie durch Wünsche zu entweihen? Aber das
war doch nicht immer so. Ach, Lina, es ist ja noch nicht lang, daß
Du mich, Du einzig Liebe, so glücklich machst. Oder ob meine Seele
die leichte Frohheit des Hoffens überhaupt nicht kennt? Oder ob
häufige Täuschung sie auf die Gegenwart zurückschränkte? — Ich
weiß nicht, aber ich bedurfte schon sehr früh nicht mehr des Hoffens.
Ich fand immer so viel in der Gegenwart und in der Vergangen-
heit, wenn auch nicht Freude eigentlich, doch Interesse. Ich konnte
nie sein, ohne etwas mit hoher, beinah schwärmerischer Liebe zu

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