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[ Band 6 Brief 232: Humboldt an Caroline Berlin, 16. August 1819 ]
zu reden. Ich weiß nicht, mir kommt vor, als wäre sie stehen ge- blieben, und wer das tut, kommt zurück. Das Leben, das innere zumal, ist doch immer ein Vorschreiten, und wenn man auch so Kindheit, Jugend, Reife und Alter unterscheidet, so gibt es unend- lich mehr Stufen, die der Mensch durchwandert und die sich nur nicht so bezeichnen lassen. In Dir ist das unendlich schön, Dir geht immer etwas Neues und noch Höheres auf, oder es entwickelt sich eigentlich in Dir aus dem, was schon war. So ist es Dir ganz neuerlich mit Kunstsinn und Kunstkenntnis gegangen. Daher bleibst Du auch immer jung und wirst es immer bleiben. Daß Du länger gelebt hast, gibt Dir nur und nimmt Dir nichts. So sicher ich dessen auch immer in Dir war, so hat es mich doch, bei unserem Wiedersehen jetzt, mehr als ich Dir beschreiben kann, er- griffen, und ich habe es oft im stillen bewundert. Es ist einem, wenn man Dich sieht und reden hört, als hät- test Du das Schöne und Zarte jeder Lebensstufe bewahrt und als wäre die, in der Du stehst, nur die, welche dem Ganzen die Farbe und Haltung gibt. Du wirst mich auslachen, daß ich so über Dich spreche, aber ich versichere Dir, holdes Kind, und es ist mein wahrster und noch von aller Liebe zu Dir geschiedener Ernst, es gibt schlechterdings kein menschliches Wesen mehr so wie Du bist, und wenn man nichts täte als Dich fort und fort betrachten und studieren, so zöge man einen unendlichen Gewinn daraus. Darum reicht auch nichts an das Zusammensein mit Dir. Über Goethe schreibst Du sehr schön und richtig. Liebe hat ihm immer gefehlt, er hat sie schwerlich empfunden, und die rechte ist ihm nicht geworden. Allein der wahre Grund dazu ist doch wohl das früh in ihm waltende, schaffende Genie und die Phantasie gewesen. Wo sich die Natur einen solchen eigenen und inneren Weg bahnt, da wird es wohl unmöglich, sich einem anderen Wesen in der Wirklichkeit uneigennützig hinzugeben, und ohne das ist keine 597