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[ Band 3 Brief 47: Humboldt an Caroline Berlin, 25. Februar 1809 ]
man selbst die unbedeutenden Gestalten dort doch hier nicht wieder sieht. Täglich fällt es mir mehr auf. Es gibt recht hübsche und selbst schöne Personen hier. Aber wenn auch, wie doch nicht zu leugnen ist, eine Volksmasse eine Art Form hat, und man irgend Kunstsinn besitzt, so kann einem der Unterschied nicht entgehen. In Rom ist, hübsche und häßliche Gestalten zusammengerechnet, doch immer eine gewisse Mäßigkeit und eine gewisse Harmonie der Teile im Ganzen. Selbst Mariuccia hat noch etwas Feines in der Physiognomie und sogar Domenicuccia ja, wie man behauptet, schöne Schultern und Arme. Hier sitzen die Nasen bald ganz flach im Kopfe, bald wie ein Berg vor, dann sind ungeheuer dicke Arme bei einer, klotzige Waden, schreckliche Füße bei einer anderen, und die Männer fast noch ärger. Kurz, gerade das Schönste an einem schönen Menschenschlag, die Totalität des angenehmen Anblicks, der einen wie der blaue Himmel, wie die milde Luft, wie eine langgewohnte schöne Gegend, auf die man einzeln gar nicht mehr aufmerkt, nicht als einzelner Genuß, sondern nur als der Strom freut, in dem man gleichsam unbewußt fortschwimmt, das fehlt schlechterdings hier. Es ist vielleicht recht kindisch, daß ich Dir das so erzähle und auch nicht klug, da auch Du an das Scheiden denkst; aber nächst dem wirklichen Genuß ist die Sehn- sucht nach dem Schönen doch das Höchste und Beste im Leben. Übrigens habe ich noch immer keine offizielle Antwort, und Gott weiß, was man ausheckt. Ich lege Dir Theodors Zeugnis dieser Woche bei. Die Liebe zum Schnee ist auch wieder gewachsen, aber das laß Dich nicht irren. Ein gewisser Sinn für das Schöne in dieser Gattung kann sich nur später erschließen; wir alle, gute, liebe Li, sind in unserer Kindheit etwas eckigt und gotisch gewesen, gebunden und bindend auf mannigfaltige Weise. Gerade darum empfindet man später das Feinere und Schönere nur voller und lebendiger und geht mehr 98