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[   Band 1 Brief 107:    Caroline an Humboldt     [Erfurt], Mittwoch abend, 15. Dezember 1790   ]


meiner Kindheit, meiner Jugend so gefolgt, sie sich so entfalten
gesehn habe. Und ich glaube auch, dies ist die Ursach seiner und
meiner so innigen und doch so gar nicht leidenschaftlichen Gefühle.
So oft ich bei ihm war, wallte mein Herz ihm in den heilig reinen
Empfindungen schwesterlicher Liebe entgegen, zu der Ahndung alles
Schönen schwebt ich in dem Odem seines Geistes empor, umflossen
von diesem reinen Strahle fühlt ich zuerst meine besten Kräfte,
die ersten Funken dieses Muts, mit dem ich mich so gern zu
allem Schweren aufschwinge. Aber Du — wie entfaltetest Du, was
unentwickelt in mir lag, Du reiftest meines Wesens Blüten aus,
die reine Ansicht dessen, was ich sein könnte, empfing ich von Dir
— vermag sie nur ganz zu fassen, wenn mein Blick dem Deinen
begegnet. — Ach, und was legtest Du mir nicht alles in die
Seele — was nahm ich mir nicht allein aus Deinem Anschauen,
aus dem schweigenden Gefühl Deines unaussprechlichen Wesens!
Tief und heilig trag ich es in mir, aber es blüht dieser neue
Frühling des Lebens nur auf, wenn ich Deine segnende Gegenwart,
das Walten Deiner Liebe um mich vernehme. Bald, bald, o mein
Herz, ruhest Du wieder an dem seinen! — Bald, sagt ich, ach, ich
bin ein Kind und täusche mich wie ein Kind und erzähle mir dies
und das. Habe Geduld, Erbarmen, sieh, ich hielt es ja nicht aus
ohne das, und ich soll mich erhalten. Will auch, will so gern —
werd ich’s auch können? —
Verzeih, verzeih die Frage, wäre Dir anders wie mir?
Schwankt doch Dein Leben wie das meine von schmerzlicher Wonne
zum namenlosen Jammer, begreifst doch auch Du nicht, wie Du
lebst. O, es ist so wunderbar! Versunken in Wehen, tobt oft ein
wilder, unbändiger Schmerz in meinem Busen. Ich schaudre zu-
sammen, fasse mit bebender Angst das zerrissene Herz, dem das
Leben zu entfliehen scheint, und wenn ich zu mir zurückkomme, kann ich
mich fragen: »Bist Du noch, Li?« und mich so innig freuen des aus-

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