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[   Band 1 Brief 60:    Caroline an Humboldt     [Auleben], den 22. Jun. 1790, 11 Uhr morgens   ]


60. Caroline an Humboldt   [Auleben], den 22. Jun. 1790, 11 Uhr morgens
                                 [Hierzu die Nachbildung des Originals]

Es ist heut Dein Geburtstag, mein Wilhelm Dieser Ge-
danke gab mir ein eignes Gefühl und verließ mich nicht
seit dem Erwachen. Obgleich man das stündlich kann, so
gibt es doch gewisse Veranlassungen, die uns mehr an die Er-
innerung der Vergangenheit, an die stille Betrachtung der Gegen-
wart mahnen — mir ging es wenigstens oft schon so an einem
ähnlichen Tage. Der Rückblick in die Jahre der Kindheit, in die
selige Zeit der unbefangen aufblühenden Jugend — wie oft hat er
eine süße Wehmut über mich ausgegossen, wie oft hab ich mein
ungestümes Herz zur Ruhe gewiegt durch die Erinnerung meiner
damaligen Gefühle, der Ansicht, die ich so oft in meiner frommen
Einfalt von den Dingen hatte — ja ich will es nur gestehen —
wie oft habe ich sie mir zurückgewünscht! O, Wilhelm! diese Ver-
schlossenheit des Sinns für vieles — ich schwöre Dir es, hat einen
unbeschreiblichen Einfluß auf mich — ich möchte bald sagen wie
Werther, »wenn es gar nicht mehr halten will, so lindert all den
Tumult der Anblick eines solchen Geschöpfs, das den engen Kreis
seines Daseins in glücklicher Gelassenheit hingeht, und wenn es die
Blätter abfallen sieht, nichts dabei denkt, als daß der Winter
kommt«. Ich gehe hier in die Bauernhütten viel herum, und
Gott weiß, wie wohl es mir oft wird, wenn ich mitten unter sie
sitze und sie mir erzählen von ihrer Wirtschaft, ihren Kindern,
ihrem kümmerlichen Auskommen, und wie sie sich von einer Zeit
zur andern durchhelfen müssen — der Gedanke der verschiedenen
Richtungen, die dieselbe Kraft in uns nimmt, und wie wir meist
nur immer werden, was die Einwürkung äußerer Dinge uns zu
werden erlaubt, wie drängt er sich mir auf, und in welches Labyrinth
der Betrachtung führt er mich nicht — und dann tritt ein elender,

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