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[   Band 6 Brief 188:    Humboldt an Caroline    Frankfurt, 19. März 1819   ]


Tugend und eine irdische Anhänglichkeit, die innere Kraft, durch
die man sich selbst erhält, die Liebe, sowohl die gleichsam gestaltlose,
die alles Schöne und Große umfaßt, als die einzelne zu einem
gleichfühlenden Wesen, knüpft man doch an die schöne Vergangen-
heit an; große Taten sind edel, lobenswert, staunenswürdig, aber
der Glanz ist gewichen, und wenn die Kunst sich zu ihnen verirrt
und sie verherrlichen will, so erkaltet ihr die Hand. Nur Bild und
Büste hat noch einen Wert. Aber die anderen Stoffe für geschicht-
liche Gemälde, die Bildsäulen, die Gedichte, wo nur die Tragödie
sich noch in einer gewissen Geschichtsepoche halten kann, aber doch
auch nicht dem Tage zu nahe treten darf, begeistern einen selten.
Dann die biblischen Stoffe und die ersten Jahrhunderte des Christen-
tums bilden für sich wieder ein eigenes und sehr schönes Altertum.
Auch würde man sich sehr irren, wenn man glaubt, unsere Zeit
würde in zweihundert Jahren glücklicher von der Kunst behandelt
werden können. Der Heroenglanz ist gewichen, und was in sich
nicht poetisch war, kann nie poetisch behandelt werden.
Du erinnerst Dich also nicht des Sigwart? Dann mußt Du
ihn notwendig lesen. Ich habe ihm neulich durch die Vergleichung
mit Kotzebue wirklich doch fast unrecht getan. Da Du Dich aber
seiner wirklich nicht erinnerst und also gewiß auch nicht des Liedes,
das ich neulich erwähnte, so setze ich Dir noch eine sehr hübsche
Strophe daraus her. Ich habe das Buch nicht mehr, ich werde
mich aber schon erinnern:
        »Seh ich die Blumen sterben,
        Wünsch’ ich den Tod auch mir;
        Sie sterben ohne Regen,
        So sterb’ ich deinetwegen,
        Ach, wär ich doch bei Dir.«
Das Lied ist wirklich vom Verfasser Miller selbst. Er hat
eine Sammlung herausgegeben, in der es besonders steht. Ich habe
sie neulich ganz durchgeblättert. Es ist aber sonst nichts so Hübsches

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