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[   Band 6 Brief 116:    Humboldt an Caroline    London, 28. August 1818   ]


was Du darüber aufgesetzt zu haben sagst. Wohl hast Du un-
endlich recht, daß nichts verloren und auch nichts unfruchtbar bleibt,
was einmal in Zusammenhang und Einklang mit dem, was in Ge-
danken und Gefühlen ewig ist, gedacht, erkannt und empfunden
worden ist. Darum hat das Leben, und das bloße Leben, selbst
ohne in die Augen fallende Tätigkeit, einen so hohen Wert, weil
es, so wie man es aufzunehmen und sich ihm zu überlassen ver-
steht, immer neue Anschauungen, Gedanken und Empfindungen wie
aus dem Nichts schafft und hervorruft. Dies im einzelnen oft
unbemerkte Anklingen des Geistigen aller Zonen und Zeiten, diese
geheimnisvolle Belebung und Erzeugung ist größer und schöner als
vieles, was sich in einzelnen Taten und Werken darstellt, und be-
darf eigentlich dieser nicht. Der Unterschied ist fast nur, daß man
die Urheber dieser namentlich kennt, da die jener stillen Fortbildung
sich in dem Ganzen verlieren und nur ungenannt in dem fort-
dauern, was ihnen angehört. Das Letzte ist meinem Gefühl immer
das Liebste und Höchste gewesen.
Was Dir, geliebtes Herz, das Zurückdenken in der Mitte
dieses Monats gewesen sein muß, habe ich hier tief gefühlt. Die
Zeit ist gewiß das Wunderbarste in der irdischen Existenz. Alles,
Freud und Leid, hängt sich an sie, und sie windet sich, unbekümmert
um alles als um ihr eigenes Gesetz, unaufhörlich auf und ab. Sie
ist das Tröstlichste, was ich im größten Unglück mir denken kann.
Man darf nur von den Sachen ab und auf sie gehen, und man
findet sich so verloren in dem Gedanken, daß alles, was einem ge-
schehen mag, durch ihr ewiges Weiterrollen und immer und immer
Neues Herbeiführen, seine brennende Farbe verliert und wie etwas
Gewöhnliches und Natürliches in der Vergangenheit verschwindet;
und wieder, wenn man eben diese Vergangenheit betrauert, wenn
man großes Glück und durchgekämpften Schmerz, als beide einmal
dem Busen vertraut und befreundet geworden, festhalten will, so

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