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[   Band 5 Brief 108:    Humboldt an Caroline    Frankfurt, 13. Mai 1816   ]


Staatskanzler Dich allein gesprochen haben sollte, so bin ich in aller
dieser Hinsicht nicht neugierig auf das, was er gesagt hat. Ich
bin es aber allerdings sehr in Rücksicht auf ihn selbst, da ich eine
große Liebe und Achtung für ihn habe und in mir, wenn ich auch
nichts Bestimmtes weiß, überzeugt bin, daß er nicht recht zufrieden
ist. Die öffentlichen Geschäfte gehen bei weitem nicht wie sie sollten,
und es ist dies nicht ohne seine Schuld. So trefflich und gut er
im einzelnen ist, so ist ein eingewurzelter Mangel in ihm, der sich
durch nichts mehr ändern läßt, daß er zu viel allein und selbst tun
will, daß er dadurch, wie er getan hat, den Geschäftsgang und
die vernünftige Verantwortlichkeit zerstört, und sehr in den Fall
kommt, daß sein Vertrauen gemißbraucht wird. In seinen Privat-
verhältnissen mögen auch oft Unannehmlichkeiten vorgehen. Ich
habe sogar neulich hier selbst erzählen hören, daß seine letzte Krank-
heit aus einem Privatverdruß entstanden sei. Solltest Du ihn
an dem Tage, der vielleicht nur zwischen Deiner Abreise und dem
Empfang dieses Briefes ist, noch sehen, so sage ihm recht herzlich,
daß meine Freundschaft und Anhänglichkeit zu ihm immer dieselbe
bleiben wird.
Mit Gneisenau bin ich sehr gut im jetzigen Augenblick. Er
hat sich selbst genähert, und ich bin ihm gern auch von meiner
Seite entgegengekommen. Er ist und bleibt immer einer von denen,
auf die in jeder Zeit sehr zu zählen ist, und wenn man seine eigene
Selbständigkeit ihm gegenüber nicht aufgibt, so läuft man nicht
Gefahr von einzelnen Einfällen oder Aufwallungen in ihm fort-
gerissen zu werden.
Stein ist schon seit Wochen auf seinem Schloß Nassau. Wir
wollen ihn dort besuchen. Ohne vorher bestimmen zu wollen, ob-
er Dir gefallen wird, wie er jetzt ist, denn ehemals hast Du ihn
ja gesehen, ist es mir ordentlich wichtig, daß Du ihn kennst. Er
ist wohler und heiterer als ich ihn sonst gekannt habe, allein wun-

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