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[   Band 3 Brief 164:    Humboldt an Caroline    Berlin, 16. Februar 1810   ]


daß Sättigung sich mit Abspannung seiner bemächtigten und ihn
nun ganz aller Freuden berauben und auf alle Kraft und Kraft-
äußerung fast willkürlich Verzicht leisten lassen. Beinah möchte ich
es ein Glück nennen, daß ihm mitten in aller Mattigkeit immer
noch die Kraft der Übertreibung geblieben ist. Dies läßt voraus-
setzen, daß auch diese Schilderung übertrieben ist, und daß er sich
noch einmal aus diesem Zustand in die Höhe raffen kann. Mir
ist diese Lage so fremd, daß ich Mühe habe, mich nur hineinzu-
denken, denn es stehe nun mit mir, wie es wolle, so muß jeder
mir einräumen, daß ich das vollkommene Gegenteil eines blasierten
Menschen bin, daß ich jedem Gegenstande noch irgendein Interesse,
jeder Lage einen Reiz abzugewinnen weiß, und daß, wenn mir
alles Äußere geraubt wäre, ich noch in mir selbst einen solchen
Fond von Dingen, Geist und Gefühl zu beschäftigen habe, daß ich
insofern nicht einmal eine lange und einsame Gefangenschaft ohne
Menschen und Bücher fürchten würde. Dies alles liegt eben in
der ersten Richtung, welche der Charakter nimmt, und das halte
ich für das eigentliche Entscheidende im Menschen, für den Punkt,
den die Erziehung nicht herbeiführen kann, zu dem sie aber den
Zugang, soviel es nur geschehen kann, immer offen halten muß.
Bei den meisten Menschen kommt das nicht zur Sprache. Sie
leben im Geschäft oder Genuß des Daseins, ohne je gleichsam
draußen auf sich selbst zurückzusehen. Haben sie das Glück, in
Geschäften und Genüssen nur das Gewöhnliche zu retten und
behaglich zu finden, so geht alles seinen Gang prächtig fort, und
es sind dann die ruhig und nützlich glücklichen Menschen.
Verlangen sie mehr, so entspricht oft die Wirklichkeit ihren Er-
wartungen nicht, sie sind erst unruhig, intrigant im Leben, oder
ausschweifend im Genuß, und es folgt dann mehr oder minder
Mattigkeit, aber sie fühlen doch eigentlich nur was ihnen abgeht,
nicht aber deutlich, daß sie selbst mit diesem Abgehenden nun un-

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