< zurück      Inhalt      vor >                                          
[   Band 1 Brief 78:    Humboldt an Caroline    [Berlin], Donnerstag abends, 30. September 1790   ]


decken, erblickt man doch in Momenten der Begeisterung die eigen-
tümliche Gestalt und ahndet mit hoher, fester Gewißheit, daß einst
eine Zeit die Schleier hinwegheben wird. Und immer ist der Ge-
nuß in diesen Momenten zwiefach. Denn auch sich empfindet man
größer und schöner, weil es des vereinten Strebens der edelsten,
besten Kräfte bedarf, um zu fassen, was den meisten Blicken ent-
schlüpft. Darum irrt man sich in seiner Menschenkenntnis so oft,
weil man nicht unterscheidet, was den Menschen eigentümlich ist,
und was nur aus dem Zusammenhange der Umstände von außen
und aus dem inneren Mißverhältnis und Entgegenarbeiten der
Kräfte entsteht. Nur aus dieser eigentümlichen Gestalt läßt sich
beurteilen, wie viel ein Mensch je zu werden vermag, und nur
durch ihren Anblick läßt sich die Gewißheit über einen Charakter
erhalten, die ohne ihn durch das bloße Urteilen aus einzelnen
Ideen, Handlungen, Reben alle Augenblicke wankend werden muß,
besonders bei Menschen, deren Ideengang schnell und ungleich-
förmig ist. Nur nach dieser Urgestalt müßte man Charaktere schil-
dern, und nur durch sie entsteht Liebe im echten Sinne des Worts.
Und hier, dünkt mich, liegt der Grund, warum die Liebe immer
von der Sinnlichkeit unabtrennbar, immer bedürfend der Gegenwart
ist. Denn nur das Wahrnehmen des ganzen Menschen in jeder
möglichen Art der Äußerung vermag ein Bild dieser Urgestalt zu
geben. Der ganze Körper, vor allem aber das Auge, ist ihr Ab-
druck; einmal der Körper in Ruhe, dann aber vorzüglich in Be-
wegung. Die Schnelligkeit oder Langsamkeit, die Heftigkeit oder
Ruhe, die Leichtigkeit oder Ungeschicklichkeit, die Feierlichkeit oder
Einfachheit der Bewegung in ihren kleinsten Graden und feinsten
Nuancen sind eigentlich das, woraus man die Natur der Emp-
findung, die Weite, Tiefe, Lebhaftigkeit berechnen kann. In Dir
ist der Ausdruck dieses eigentümlichen Wesens unendlich stark und
lebhaft. Wie ich Dich auch noch wenig gesehen hatte, wußte ich

                                                                       232