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[   Band 1 Brief 74:    Humboldt an Caroline    [Berlin], Mittwoch abend, 22. Sept. 1790   ]


schuldig. Wenn ich bedenke, wie oft die Ideen sich so sonderbar
aneinander reihen, wie heterogene Ansichten sie gewähren und
wie leicht bei manchen unternehmenden Charakteren der bloße
Gedanke Tat wird, so schwindelt’s mir oft im Kopf, ob man
bestrafen oder belohnen soll. Und dann ein Blick auf das an-
gerichtete Übel, auf die übrigen Menschen, auf die ganzen
äußeren Lagen, in die nun so ein Ideengang, so eine An-
sicht nicht paßt. Dazwischen so ein ewiger Streit, und den mit
Schwert und Kerker zu schlichten. Sonderbar genug! Wären die
meisten Verbrecher Menschen von großem Gehalt, so würd es mir
nicht leid tun, auch streng zu sein. Der Leidende dächte dann: ich
habe die Freude gehabt, nach meinen individuellen Gefühlen, in
unabhängiger Freiheit zu handeln, es ist billig, daß ich dulde, was
daraus natürlich entspringt. Aber so sind die Besseren unter den
Verbrechern meist Menschen, die nicht anders handeln konnten, und
daß sie nicht konnten, ist teils so menschlich, teils so gut. Da zer-
knickt man denn mit der Strafe jedes höhere, schönere Gefühl und
zwingt die Menschen zu Kälte und Fühllosigkeit. Sonst sah ich
das anders an, ich wäre aus Grundsatz streng gewesen. Die
Menschen müssen leiden, um stark zu werden, dacht ich. Jetzt denk
ich, sie müssen Freude haben, um gut zu werden. Ich bin viel
sanfter, viel menschlicher geworden. Wie bin ich überhaupt so
anders, seitdem Dein Wesen in das meine verwebt ist, nun seitdem
ich Dich liebe. Wie ist mein Geist mehr gehoben, mein Herz besser,
mein ganzes Wesen veredelt. Und seitdem Du mich liebst, wie bin
ich da so viel jugendlicher, blühender, glücklicher! Jeder, der mich
sieht, dächt ich, müßte die Pflege Deiner Hand an mir erkennen,
müßte sehen, daß nun Du mich hegst und trägst und beseligst.
Denn, daß ich glücklich bin, glücklicher, wie ich je den glücklichsten
Menschen sah, das sagt mir doch jeder Augenblick, das Geständnis
preßt mir doch selbst der Trennung wehester Moment aus. Ich

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