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[   Band 1 Brief 67:    Caroline an Humboldt     [Burgörner], den 23. Juli 1790, abends   ]


wie jetzt, nie erschien ich mir so arm, so wenig Deiner wert, ach,
und diese verzehrende Sehnsucht in mir hat alle Blüten meines
Geistes versengt. — Diese Stimmung ist mir doppelt schmerzlich in
dem Moment, wo ich Dich erwarte. Sieh, Wilhelm, mein ganzes
Wesen lebt so einzig in dieser Hoffnung, und dennoch faßt es sie
nicht. Der Gedanke umschwebt mich unaufhörlich, aber er verwebt
sich nicht in mein Selbst, reißt meine Seele nicht hin in das selige
Vorgefühl, durch das man die Zukunft vorahnend genießt. Ich be-
greife nicht die Möglichkeit, daß ich Dich wiedersehen soll — in
Deinen Armen werd ich mich fühlen müssen, um die ganze Wahr-
heit meines Glücks wieder tief in meinem Herzen aufzunehmen . .

                         [Schluß fehlt.]

 ———

Am 1. August traf Humboldt in Burgörner ein und weilte dort bis
zum 14. September. Nach seiner Rückkehr nahm er in Berlin seine Arbeiten
am Kammergericht mit erneutem Eifer auf.
Die richterliche Stellung war zu jener Zeit, da unter dem Minister
Wöllner Willkür und Zwang die Aufklärung und Geistesfreiheit der
Fridericianischen Regierung verdrängt hatten, die einzige, die einem Manne
von Charakter und Verstand die Möglichkeit gab, kühn und unabhängig für
Recht und Gewissensfreiheit einzutreten. Eine Persönlichkeit wie Humboldt
mußte in dieser Tätigkeit sich auszeichnen und in dem Gefühl, Nutzen zu
stiften, Befriedigung empfinden. Die Aussicht auf eine schnelle Beförderung,
eine glänzende Laufbahn, die sich ihm eröffnete, mußte ihm doppelt wertvoll
erscheinen, da er damit seinem Ziel, der Vereinigung mit der geliebten
Braut, näher rückte. Es war daher allen, die aufmerksam auf ihn geworden
waren und ihre Hoffnungen auf ihn setzten, unbegreiflich und im Hinblick
auf das Gemeinwohl fast unverzeihlich, als er beschloß, sich ganz vom öffent-
lichen Leben zurückzuziehen und nur seiner Bildung zu leben.
Wir werden in den folgenden Briefen sehen, wie dieser Wunsch in ihm
aufsteigt, wie Caroline in tiefem Erkennen der Eigenart seines Wesens sich
dazu äußert, und wie endlich der Entschluß reift, der durchaus im Einklang
mit seiner ganzen Lebensausfassung steht.
Ihm war, wie er an Forster schrieb: »Der wahren Moral erstes
Gesetz: Bilde Dich selbst, und nur ihr zweites: Wirke auf andere durch das,
was Du bist«, und wenn es je einen Menschen gab, der diese Theorie ver-

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