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[   Band 1 Brief 63:    Humboldt an Caroline    [Berlin,] den 29. Junius 1790   ]


So ist mir oft so bang um Dein Glück, und dann ist mir
auch wieder nicht bange!
Noch niemand hat mich so gefaßt wie Du, niemand so ver-
standen. Alles, was mich manchmal selbst bei mir freut, das hast
Du so tief und gleich gesehen, und fühlst es überall, wo es, in
welcher Gestalt es sei, erscheint. Ich erkläre mir das immer so.
Mir ist’s, als hätte dem bildenden Geist, der uns schuf, immer bei
jedem von uns eine Idee von Vollkommenheit — höhere und ge-
ringe — vorgeschwebt, und nach dieser Idee hätte er unser Wesen
geformt. Wo nun die Idee groß, die Form schön war, da bleibt
das Gepräge in jedem Ausdruck, jeder Handlung, jeder Äußerung
des Menschen — sie sei gut oder böse — und der tiefe Späher
findet sie überall wieder und freut sich der Hand Gottes im
Menschen. Wir selbst fühlen diese unsre ursprüngliche Form manch-
mal, aber nur in den Augenblicken, wo wir ganz in uns hinein-
gehen. Zu diesen Augenblicken führt kein Nachdenken, oder nicht
leicht. Eine Art von Begeisterung zieht den Vorhang uns auf,
und dann fällt er wieder, und die Erinnerung umschwebt uns wie
ein Traum. Mir geht’s manchmal so, und wenn ich einmal recht
unzufrieden mit mir bin, dann sag ich mir manchmal, und ich bin
doch gut! und dies sag ich mir nur im Andenken so eines Augen-
blicks. Aber in den wahrhaft großen und schönen Wesen ist’s
anders, da ist die Form rein und unentstellt erhalten, da stellt sie
sich in ihrer ursprünglichen Wahrheit in jeder Äußerung ein, da
bedarf es nicht des begeisterten Augenblicks, nur des Sinnes, ihre
Schönheit zu empfinden. Das sind die Wesen, deren Adel man
anbetet, und so betet man Dich an, Lina, so betet Dich jeder an,
aber mit dieser Glut der Andacht, mit dieser Innigkeit der Demut
nur ich! —— Leb wohl.

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