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[   Band 1 Brief 60:    Caroline an Humboldt     [Auleben], den 22. Jun. 1790, 11 Uhr morgens   ]


kurzsichtiger Mensch auf, der nicht einen halben Blick in dies uns
endliche Gewebe menschlicher Empfindungen zu tun vermag, und
urteilt frech und vermessen über seine Brüder, und möchte so gern
seinen eingeschränkten Gesichtskreis für die Grenzen des Reichs der
Empfindung ausgeben —— vergib, ich möchte nicht gern bitter werden,
aber die Albernheiten der Menschen sind unbegreiflich. — Wenn’s
mir manchmal so einfällt, wie sie sich ziehen lassen an dünnen,
dünnen Fäden wie die Drahtpuppen, und was sie ihren klein-
lichen Leidenschaften vor prächtige Namen geben, und wie sie nichts
herzlich lieben, ihres Selbst’s sich keinen Augenblick entäußern
können und keinen Sinn haben für irgend etwas Großes — sieh,
ich gehe tausendmal lieber um mit Kindern und dem sogenannten
gemeinen Volke, als mit ihnen. Wenn man sie einmal gesehen hat,
weiß man sie auswendig, man kann berechnen, was sie tun und
sagen werden und — ich will nur davon abbrechen. Ich weiß
wohl, daß auch hier die allgemeine Regel gilt, daß Erziehung,
fremde Launen, äußerer Druck diese Menschen gemacht hat, und
darum toleriere ich sie auch gern — aber wohl kann’s mir nicht
sein unter ihnen, wenn mir so manches einfällt, und der Mantel,
den sie sorgfältig um sich schlagen, oft so durchsichtig wird wie Flor,
und man hineinschaut bis in ihr Innerstes. Aber wo gerate ich
hin? Von Dir, von Deinem Geburtstage, von meinen Empfindungen
dabei, auf diese Menschen! — Vergib den Abfall, teurer Geliebter.
Ich war früh 4 Uhr schon im Freien — die Sonne ging eben auf
— ich dachte an Dich, und mir ward so wohl dabei. Ich betete
nicht — so selten kann ich das — aber mein Herz drang still zu
der ewigen Güte über uns — o sie wird mit Deinem Leben sein,
wird Dir das Beste geben und mir das seltene Glück, einige Augen-
blicke Deines segensvollen Daseins zu verschönern. — —
Ich habe mir ausgedacht, daß auf diesen Tag künftigen
Sommer unsre Verbindung sein soll. Was meinst Du dazu? Ich

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