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[   Band 1 Brief 57:    Humboldt an Caroline    [Berlin], den 19. Juni 1790   ]


Dir rätselhaft sein. Aber Du warst mir näher, als ich zu hoffen
es wagte, und sahst so tief in die innersten Gefühle meines Herzens.
Als ich nun wiederkam, war das anders. Es war mir so lebhaft,
als liebtest Du mich, und doch vermochte ich’s nicht zu fassen.
Ach! dachte ich oft, wenn es nur wäre, um Dich glücklich zu
machen, nur weil diese Engelsseele nicht leben kann, ohne zu be-
glücken, was um sie ist, und weil ihr zarter Sinn zu tief fühlt,
daß nur Liebe beglückt. Es geht mir so ganz wie Dir, ich bin so
ein eigenes, kindisches Geschöpf. So ewig mißtrauend der Dinge,
die mich beglücken. Meine Seele braucht lang, entzückende Gewiß-
heit zu fassen. Jetzt selbst, Lina, jetzt, da sie so ganz und ohne
Zweifel mein ist, jetzt noch werd ich dennoch, wie Du, erst in einem
Blick, in einer Umarmung von Dir suchen, ohne was meine Seele
nicht zu ruhen vermag. Es ist mir lieb, daß wir uns so lang einer
mit dem andern beschäftigten, daß wir umeinander litten, ehe wir
diese Stufe erlangten, die uns jetzt so beseligt. Man dringt dann
tiefer ineinander ein, umfaßt einander voller und ist gewisser des
gegenseitigen Besitzes.
Wahrlich, Lina, wir kennen die Seligkeit selbst noch nicht, die
wir einander zu reichen vermögen und reichen werden. Dein Wesen
ist so unerschöpflich, Deine Empfindung so reich, und mein Herz
wirst Du noch so jugendlich, manchmal so kindisch unerfahren finden.
Oft ist’s mir unbegreiflich, wie es sich so zu erhalten vermochte,
aber dann saß ich’s doch wieder leicht, weil mein Herz in seinen
vollsten, besten Kräften eigentlich wenig beschäftigt war, weil die
lange auch da noch ruhten, da mein Verstand schon viele Verhält-
nisse kannte, die bei andern gewöhnlich früher das Herz empfindet.
Mein Gefühl bildete sich in vereinzelter Einsamkeit, da gewann es
zu viel Eigenheiten, als daß ein anderer ihnen leicht hätte nach
gehen können. So blieb es so versteckt in sich, so unerschlossen vor
andern; das Bewußtsein, ganz verstanden zu werden, hatt ich von

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