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[   Band 1 Brief 48:    Humboldt an Caroline    [Berlin], den 8. Mai 1790   ]


sehr schön. Die Gegend hat in der Tat etwas Romantisches, und
für eine hiesige ist sie überschön. Und ich, der ich nun von meiner
ersten Kindheit an da war, von wie vielen Erinnerungen werd ich
ergriffen bei jedem Anblick. Wie so oft stand ich, wie neulich, auf
dem Weinberg und sah über das Feld und die Wiesen und den
See und seine einzeln verstreuten Eilande hin! Sehnsucht dehnte
dann meinen Busen aus, wie jetzt, aber damals war das Sehnen
so unbestimmt, so unruhvoll, jetzt so bestimmt, so harmonisch, wenn-
gleich auch jetzt verzehrend und heftig. Bei jedem Schritt finde ich
eine Szene der Vergangenheit wieder, und das fesselt mich wunder-
bar an die Gegend. Wieviel hätte ich manchmal in der Zeit, da
ich abwesend war von hier, um eine halbe Stunde in dem Wäld-
chen gegeben! Es sah mich so oft gedrückt; nun hätt es mich
glücklich gesehen! Und jetzt, da ich es wiedersehe, trotz der großen,
schönen Natur, die ich sah, wirkt diese kleine einfache Landschaft
doch noch mit immer gleichem Zauber auf mich! — — —


49. Caroline an Humboldt   [Erfurt], Sonntag morgen, den 16. Mai 90

Kennst Du Schlosser persönlich? Hast Du seine kleinen
Schriften gelesen? Schreib mir etwas von ihm, wenn
Du ihn kennst. Es muß ein merkwürdiger Mann sein.
In den kleinen Schriften sind gar hübsche Aufsätze. Lies doch den
Faust von Goethe, das Gretchen ist ein ganz neuer weiblicher
Charakter, so lieb, so innig und wahr.
            Meine Ruh ist hin,
            Mein Herz ist schwer,
            Ich finde sie nimmer
            Und nimmermehr.
Sag Dir das Lied aus meiner innersten Seele.

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