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[   Band 1 Brief 22:    Humboldt an Caroline    [Berlin], den 29. Januar 1790   ]


und Dir noch jetzt allen Dingen um uns her eine milde Farbe
leiht. Die Seele wird unglaublich dadurch gehoben, sie lebt und
webt allein in der Empfindung, die sie befestigt, und alles andre
verschwindet vor ihr. In mir geht das höchste Gefühl immer in
Entzücken, nie in Wehmut über, denn ich lebe dann nur der Emp-
findung, und die fühl ich in ihrer endlosen Dauer; den Gedanken,
daß sie ist, gewesen ist, vermag keine Ahndung, selbst keine Gewiß-
heit der Zukunft zu vernichten. Mein Gesichtskreis erweitert sich
dann, es ist mir, als sei’s nicht für mich bloß, nein, als sei’s für
die Menschheit Gewinn, daß es einmal empfunden, genossen wurde.
O! und das freudige Entzücken, das die Seele überströmt, zeigt
alle Dinge um uns her so viel voller, reicher, schöner. Man hat
höhere Kraft, Schönheit durch sie zu empfangen und in ihnen wieder
hervorzubringen. Darum, weil ich das in Deiner Umarmung, an
Deinem Busen so stark fühlte, weil ich’s nie vorher empfand,
darum schrieb ich Dir in meinem ersten Briefe und sagte es Dir
oft, daß Deine Liebe mir eine neue Schöpfung, ein noch nie ge-
lebtes Leben enthüllt habe. Auch Du gestandest mir das. O! ich
kann es Dir nicht schildern, wie diese Übereinstimmung, diese Gleich-
heit unsrer Empfindungen mich entzückte. Ja, Lina, es ist unendlich
viel Genuß in jedem Grade, jeder Gattung der Liebe, aber der
höchste nur da, wo in zwei Wesen immer gleiche Empfindungen,
aus gleicher Fülle, in gleicher Weise, gleicher Reife, gleicher Innig-
keit hervorgehen. Nur da sprießt, wie auf heimischem Boden, jeder
Keim unverwelklicher Schöne auf.
Wir hätten beide mit manchem andern Wesen glücklich sein
können, aber das Leben, wozu die Natur uns schuf, konnten wir
nur mit einander leben! Die höchste Kraft und der höchste Genuß
des Weibes schien mir immer darin zu liegen, von schönen, reinen,
idealischen Empfindungen erfüllt, den Streit der äußern Wirklich-
keit damit nicht aufzuheben, aber doch mehr zu ebnen. Die Mög-

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