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[   Band 1 Brief 19:    Humboldt an Caroline    Dessau, 15. Januar 1790   ]


zurück, und jede dieser Erinnerungen sagt mir, wie namenlos Du
mich liebst. Dann entbrennt meine Einbildungskraft, dann vergeß
ich mich selbst, und endlich scheint mir’s ein Traum.
Aus so einem Traum weckte mich Dein Brief. Er gab meiner
Erinnerung wieder Wahrheit und Leben, hielt mein Herz wieder
im Glauben an Deine Liebe. Ach! verzeihe dies Schwanken! Aber
ich ward ja nie so geliebt, und daß nun Du so mich liebst, das
macht mich zu glücklich, um nicht zu zweifeln. Auch ich dachte wie
Du, nicht so geliebt zu werden. Daß man so lieben könnte, das
fühlte ich wohl, und darum war ich glücklicher als Du. Denn ich
sah doch andre genießen — wenn ich auch freilich entbehren mußte.
Nun entbehre ich’s nicht mehr. O! nun fordere ich jeden auf, zu
sagen, daß er mehr genoß. Du liebtest ihn ja nicht!
Wohl eine lange, trübe Periode unsres Lebens! und — ich
ahn es aus zu wahrscheinlichen Gründen — wirklich eine lange!
Arme Lina! Du leidest noch mehr darin als ich. Nicht daß ich
weniger entbehrte. O! das kann Lina von ihrem Wilhelm nicht
glauben. Nein, aber meine Existenz ist freier, ich bin zerstreuter,
bin selbst unaufhörlich tätig, die lange Periode zu verkürzen. Was
nun auf der andern Seite — denn auch ich, meine Lina, kann nie
glücklicher sein als Du es bist — was mich dafür tröstet, ist, daß
ich auch unruhiger, gestörter, weniger rein lebe als Du! So sind
wir uns wieder gleich. O! laß Erinnerung und Hoffnung uns
halten, dann wird eine Zeit nach der andern verstreichen, und end-
lich wird das Schicksal vereinen, was die Empfindung schon lang
unzertrennlich miteinander verband.
Laß mich hier schließen, Lina! Ich komme erst nicht lange von
Wörlitz und bin müde.

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